Brüssel, 16. October 2017, Press Club Brussels - Europe. Vor vollem Haus in der europäischen Hauptstadt präsentierte die Heinrich Böll Stiftung ihren Meeresatlas, den sie in Zusammenarbeit mit dem Kieler Exzellenzcluster Future Ocean produziert hatte. Der Atlas umfasst 18 kurze Kapitel mit Übersichtskarten und Infografiken, um die wichtigesten Problematiken rund um den Ozean zu illustrieren und bessere Herangehensweisen anzuregen.
Klaus Linsenmeier, Leiter des Brüsseler Büros der Böll-Stiftung, begrüßte die Teilnehmer und erklärte, dass der Atlas bereits in Kiel und Berlin vorgestellt worden sei, um Menschen aus unterschiedlichen Lebensbereichen, insbesondere aber auch politische Entscheidungsträger zu erreichen. Der Atlas sollte die Notwendigkeit weiterer sorgfältiger Untersuchungen und eines besseren Schutzes des Ozeans unterstreichen, der für das Klima, für die Erhaltung der Nahrungsmittelversorgung und vieles mehr entscheidend ist. Daher war eine besondere Veranstaltung für Vertreter der europäischen Institutionen und zivilgesellschaftlichen Organisationen in Brüssel ein Muss. Dann lud er Prof. Dr. Mojib Latif vom GEOMAR ein, die wissenschaftlichen Schwerpunkte des Atlas vorzustellen.
Mojib Latif fasste die drei größten Bedrohungen für den Ozean zusammen: Überfischung, Klimawandel und Umweltverschmutzung.
"Fisch ist ein Eckpfeiler der globalen Ernährungssicherheit. Es ist das am meisten gehandelte Naturprodukt der Welt. Aber diese globale Abhängigkeit von Fisch ist tatsächlich die größte Bedrohung für unsere Fischpopulationen. Viele sind überfischt, und die Zahl steigt." Das sind die einleitenden Worte des Kapitels Fischereimanagement: Fisch - bald ausverkauft? begleitet von der Grafik der FAO, die den rapiden Rückgang der nicht ausgelasteten Bestände zwischen 1974 und 2013 und den Anstieg schädlicher Subventionen zeigt, die in einigen Fällen, wie Deutschland, den Wert der gefangenen Fische übersteigen.
Was den Klimawandel betrifft, so trug die Erderwärmung im letzten Jahrhundert bereits durch die thermische Ausdehnung zu einem Anstieg des Meeresspiegels um 10 cm und im Durchschnitt weitere 10 cm durch Wasserzufuhr von den schmelzenden Gletschern bei. Das Land (rote Linie) wärmte sich schneller auf als der Ozean (blaue Linie), wie in der Grafik rechts gezeigt, obwohl der Ozean mehr als 90% der überschüssigen Wärme aufgenommen hatte. Durch die Aufnahme von etwa 25% des emittierten CO2 trug das Meer auch auf andere Weise zur Stabilisierung des Klimas bei, wurde dabei jedoch saurer - ein ernsthaftes Problem für Meeresorganismen mit Kalkskeletten.
Mojib Latif betonte, dass es bei den derzeitigen Trends fast unmöglich sei, die Ziele des Pariser Klimaabkommens zu erreichen, und dass es wichtig sei zu verstehen, dass anders als soziale Fragen, die globale Erwärmung nicht verhandelbar sei. Alle gemessenen Trends deuteten stark in die falsche Richtung, und es gab bisher keine Anzeichen dafür, dass Länder und Unternehmen auch nur annähernd genug taten, um das globale Klimasystem unter Kontrolle zu halten.
Er konnte nur sehr kurz auf das Problem des Mikroplastik im Ozean eingehen, das durch das Nahrungsnetz im Meer zu unseren Tellern zurückkehrte. Da es keine realistische Möglichkeit gab, das Plastik herauszuholen, sobald es den Ozean erreicht hatte, empfahl er, keine Mikroperlen mehr in Kosmetik- und Körperpflegeprodukte zu geben, Plastiksäcke komplett aus dem Verkehr zu ziehen und andere wirksame Maßnahmen zu ergreifen, um die Meeresverschmutzung durch Plastik zu verhindern.
Die anschließende Podiumsdiskussion wurde von Andràs Inotal von der Europäischen Kommission (2.v.l), MEP Ricardo Serrão Santos (2.v.r.), Ann Dom von Seas at Risk (l.) und Torsten Thiele vom Institute for Advanced Sustainability Studies (IASS) in Potsdam (r.) bestritten, die auch in dieser Reihenfolge sprachen.
Andràs Inotal von der DG MARE der EU Kommission eröffnete die erste Runde der Stellungnahmen optimistisch indem er darauf hinwies, dass der Ozean die 7. Wirtschaftsmacht der Erde wäre, falls er mit nationalen Volkswirtschaften verglichen würde. In der EU alein hingen geschätzte fünf Millionen Arbeitsplätze von der maritimen Wirtschaft ab. Innerhalb des EU Gebiets sei der Meeresschutz bereits zu einem hohen Maß durch eine Serie von Regelwerken gewährleistet: durch die Meeresrahmenrichtlinie, maritime Raumplanung, die Reform der Gemeinsamen Fischereipolitik, die geplante Plastikrichtlinie und die Investition in Forschung, die allein 2017 €250 Millionen ausmachte.
Ricardo Serrão Santos gratulierte der Stiftung zur Produktion des Atlas als ein gutes Stück Wissenschaftskommunikation. Er warnte davor, dass einige der Erwartungen bezüglich des ansprechenden Konzepts von Blue Growth unbegründet sein könnten. Der Ozean war sicherlich sehr wichtig, z.B. für die Beschäftigung in der Fischereiindustrie, gefolgt von Öl und Gas gemäß einem OECD-Bericht von 2013. 75% des weltweiten Handels würden über den Ozean abgewickelt und die größte Wachstumsbranche war der Tourismus. Die Bedenken hinsichtlich der Nachhaltigkeit dämpften jedoch die Hoffnung auf weiteres Wachstum. Neue Bedrohungen traten auch aus dem bevorstehenden Beginn des Tiefsee-Bergbaus und einem globalen Ressourcenverbrauch auf, der das demografische Wachstum übertraf. Deshalb riet der Abgeordnete des Europaparlaments zur Vorsicht gegen mögliche Übertreibung.
Ann Dom fügte weitere kritische Hinweise hinzu, insbesondere dass die praktische Umsetzung der an sich vielversprechenden EU-Richtlnien durch die EU-Mitgliedstaaten nach wie vor eine große Herausforderung darstelle. Das Versprechen, bis 2020 einen gesunden Status in den europäischen Gewässern zu erreichen, werde mit großem Abstand verpasst, und das anhaltende Denken in den sektorspezifischen Silos erwies sich als Haupthindernis für den Übergang zu einer Kreislaufwirtschaft, die auf mehr Effizienz und und Resourcenschonung abzielte. Sie war sehr skeptisch gegenüber dem politischen Willen, Strategien so tiefgreifend zu verändern, dass die selbstgesetzten Ziele erreicht werden konnten. Außerhalb der EU bedauerte sie, dass die obskure und unterbesetzte UNO-Meeresbodenbehörde vor kurzem den Tiefseebergbau genehmigt hatte, obwohl dies auf keinen Fall nachhaltig geschehen konnte.
Torsten Thiele begrüßte den Atlas als einen wichtigen Beitrag zur Verbesserung des Wissens über die Meere. Der Schwerpunkt seines Redebeitrags lag auf globalen Themen. In diesem Zusammenhang unterstrich er die Dringlichkeit des Abschlusses der WTO-Verhandlungen im Jahr 2017 zum Verbot von Fischereisubventionen und einem Fortschritt in den Verhandlungen für einen Vertrag zum Schutz der Biodiversität auf hoher See und mehr Ballastwasserbehandlung forderte. Er sah auch viele Gelegenheiten für Investitionen in große Infrastrukturen zur Beobachtung der Meere, einschließlich gegen illegale Operationen. Eine Umstellung auf eine nachhaltigere Nutzung, Investitionen in grüne Infrastruktur und Küstenschutz stellten ein großes Investitionspotenzial dar.
Die Moderatorin ermöglichte dann auch eine lebhafte Debatte zwischen dem Publikum und den Rednern, in der zusätzliche Interessensgebiete zutage kamen, die nicht alle vom Atlas abgedeckt wurden. Das vorrangige Ziel, den Zugang zu Forschung und Analyse über den Ozean und die kritische Reflexion darüber zu fördern, wurde mit Sicherheit erreicht. Jetzt müssen den Ideen Taten folgen.
Die wichtigsten Infografiken sind hier separat auf Englisch erhältlich, der komplette Atlas auf Deutsch kann hier kostenlos heruntergeladen werden.
Text und Photos sind von CE Nauen.