Frederico Füllgraf, Santiago de Chile
Pichilemu und Bucalemu - „Kleiner Wald” und „Grosser Wald” in der Mapuche-Sprache Mapugundún - sind begehrte Strand-Badeorte in der Region O ́Higgins, 200, bzw. 240 Km südwestlich von Santiago de Chile entfernt. Wegen seinen break points in Punta de Lobos ist Pichilemu insbesondere ein heisser Surfer-Tip.
Doch die altehrwürdigen Fischerdörfer sind auch die Hochburgen der chilenischen Algen-Fischerei, ein unscheinbares, der Aquakultur zugeordnetes extraktives Gewerbe, das mindestens 35.000 AlgenfischerInnen und SammlerInnen beschäftigt und in dem jährlich ca. 700.000 Tonnen von 18 verschiedenen Algenarten - darunter Chascón (Kelp, eine riesige Braunalge) (Macrocystis pyrifera), Luga Negra (Sarcothalia crispata), Luga Roja (Gigartina skottsbergii), Chicorea del Mar (Chondracanthus chamissoi) und Luche (Porphyra columbiana) - aus dem Meer gefischt oder am Meer gezüchtet werden. Davon werden regelmässig bis zu 500.000 Tonnen nach Japan, den USA, China und Spanien exportiert. Mit Jahresumsätzen um die 300 Mio. US-Dollar (Subpesca, 2013), ein florierendes Geschäft für die Händler und Exporteure, doch nicht so blühend für die Algueras, die Algensammlerinnen.
Hier, die Chonik einer Sammelwirtschaft, die zum Biotech-Geschäft mutieren soll.
Ein paar Hektar Meer
Von September bis März, wenn sich der feuchtkalte Winter aus Zentralchile zurückzieht, verändert sich das Landschaftsbild an den Stränden von Pichilemu und Bucalemu. Dann strömen hunderte von Algueros aus dem Hinterland an den Pazifik, schlagen ihre Zelte auf, in denen sie die Frühlings- und Sommersaison verbringen werden. Sie erobern die Muschel-bespickten, rutschigen Klippen in der Brandung, wo pünktlich zur wärmeren Jahreszeit neue Algen-Kolonien aus dem Meeresboden schießen.
Nach durchzechten Sommernächten, stolpern die Touristen erst spät aus ihren Betten in Pichilemu und Bucalemu. Anders am Strand, wo die Fischer bei Sonnenaufgang von ihren Fängen zurückkehren und die Algueras nach magerem Früstück in Richtung Brandung aufbrechen.
Ein paar hundert Meter tief im silbern wabbernden Meer ist die Silhouette vereinzelter Surfer zu erkennen. Frühaufsteher, denen die Algueras mal gern zuwinken. Gegen acht Uhr am Morgen sind es um die dreissig Algen- und Muschelsammlerinnen, die mit ihren geschulterten, billigen Rucksäcken Made in China – in denen sie kaum mehr als eine Thermosflasche mit warmen, milchigem Tee tragen – zu Fuss Kurs auf die Brandung nehmen.
Zwar scheint die Sonne, doch weht kalter Wind über Wellen und Dünen. Eisig ist dieses Meer, in das die Frauen ihre ungeschützten Beine und Füsse tauchen. Wie geschmeidige Katzen oder geübte Seevögel hüpfen und erklimmen sie die glitschigen, Wellen umbrandeten und mit messerscharfem Muschelkolonien umrankten Felsen, an deren Füssen die Algenkolonien vom Wellengang hin und her geschaukelt werden.
Der aus der Antarktis heran nahende, parallel zu den Anden in Richtung Galápagos-Inseln fliessende, eiskalte Humboldt-Strom umspült hier die Küste mit einer um 7–8 °C niedrigeren Wassertemperatur als draussen auf hoher See. Er gilt als „fruchtbarster Uterus” der Weltmeere, in dem allerlei Lebewesen gedeihen und schließlich an die Felsen von Pichilemu und Pucalemu gespült werden: Grünalgen, Cochayuyos, schwarz gepanzerte, leckere Chorito-Muscheln (Mytilus chilensis), rote Manteltiere (Pyura chilensis), Seeigel, Locos (große chilenische Abalone Meeresschnecken der Gattung Concholepas, ganz zu schweigen vom Gewühl winziger Ozeanbewohner, die nur das Argusauge der Möven und Fischreiher erkennt.
Manchmal erklimmen die Algueras einen hohen Felsen und halten mit der Schatten spendenden, gegen die Stirn gelegte Hand Ausschau auf den flimmernden Pazifik, der ihnen Dankbarkeit und Ehrfurcht abverlangt, so als würden sie flüstern „All das gehört uns, den Algensammlerinnen!“.
Gemeint ist die área especial de manejo (Sondergelände für nachhaltiges Wirtschaften) für benthische Ressourcen, eine auf unbestimmte Zeit von Subpesca vergebene Konzession, die in der Regel ca. 7,6 Hektar Meeresareal misst.
Die Algueras von Pichilemu
Bis 2002 war die Algenfischerei ein ausschließliches Männergewerbe, in dem die Männer ins Wasser abtauchten und Algen heraus fischten und den Freundinnen und Ehefrauen die Sammlung und Bündelung zufiel, vor allem der auf jedem chilenischen Fisch- und Gemüsemarkt gestapelten, Seemonster ähnlichen cochayuyos (Durvillaea antarctica).
Die Frauen verdienten keinen Heller für ihre Arbeit und entstammten Familienverhältnissen, in denen nach altgedientem hispano-chilenischem Machismo, Frauen nach allen Regeln der Kunst von ihren Liebhabern und Ehemännern herabgewürdigt und regelmässig verprügelt wurden. Diese Demütigungen hatten ein Ende als Lidia Jiménez, Algenbündlerin und Ehefrau eines Tauchers, die Frauen dazu aufrief, eine Alguera- und Muschelsammlerinnen-Gewerkschaft zu gründen.
Die im Jahr 2001 von 35 Frauen gegründete Genossenschaft der Algensammlerinnen von Pichilemu war die erste ihrer Art in ganz Südamerika. Doch bis dahin war es ein neun Jahre dauernder, dorniger Weg, gepflastert mit Diskriminierungen und zähen Kämpfen gegen den Machismo von Ehemännern und Kollegen, in ihrer Mehrheit Fischer und Taucher.
Zu Anfang liess selbst die Fischerei-Überwachungsbehörde (Sernapesca) die Frauen abblitzen. Ein typischer Männerverein, wo mit rotzigen Schimpfworten „zur Sache” gesprochen wird, völlig ungeübt im Umgang mit Frauen als Ebenbürtigen. Unter vier Augen beichteten einige Frauen, daß sie von ihren Ehemännern geschlagen worden seien, um sie von der Genossenschaftsgründung abzuhalten. Es bedurfte einiger Überredungskunst der Geschäftsführerin, um ihre Kolleginnen zur Klage wegen körperlicher Misshandlung zu ermutigen, der nach offizieller Auskunft (Encuesta Nacional de Victimización por Violencia Intrafamiliar y Delitos Sexuales, 2012) immer noch 32% aller Chileninnen zwischen 15 und 65 Jahren zum Opfer fallen.
Die entscheidende Unterstützung erhielten sie von unerwarteter Seite, nämlich von der Marine, die für die Regulierung des See„geländes” zuständig ist. Die Armada schenkte ihnen auch 35 Gummi-Taucheranzüge und Angelwerkzeug, ausserdem Kunststoffplanen als Regenschutz für ihre gesammelten und gestapelten Algen. Unvergesslich die Geste des Marine-Kapitäns, der ihnen 2008 sogar einen Container schenkte, den sie sich als Umkleide- und Schlafraum mit Küche einrichteten.
Doch von Seiten der Fischer, am Strand, nichts ausser Anmache, Beschimpfungen, Beleidigungen. Etwa als Ausdruck von Neid gegen ihre kleinen Erfolge?
Arbeiteten sie vorher unentgeldlich für ihre Ehemänner, kommen sie in der sommerlichen Hochsaison wenigstens auf 250.000 Pesos – das sind im Oktober 2015 umgerechnet 330 Euro). Im Winter verdienen sie maximal 70.000 Pesos, das sind dann gerade mal 100 Euro. Das ist ein Grund, weshalb die Algensammelerinnen ihre Einküfte mit dem Wiederverkauf von Kunsthandwerk, als Reinemachefrauen und Pilzsammlerinnen aufzubessern versuchen.
Was sie nicht kontrollieren können, ist der Endpreis ihrer Algen. Der steigt mindestens um das Vierfache zwischen der Verladung auf die LKWs der Zwischenhändler und der Entladung im internationalen Hafen von San Antonio.
Überausbeutung durch den Markt ist eine landesweite Klage der Algenfischer.
Víctor Águila, Gewerkschafsführer der Federación Rivera Norte, beschwerte sich in chilenischen Medien über die niedrigen Preisangebote der Zwischenhändler, die selten 20 Pesos – ca. 0,7 Euro – je Kg erreichen. Felipe Ojeda, Vorsitzender der Vereinigung Algas Chile, schlug Alarm: Die hoch verschuldeten Algueros können ihre Schulden nicht mehr bezahlen, 400 Bewirtschaftskonzessionen seien schon 2013 wegen Zahlungsunfähigkeit den Algenfischern entzogen worden.
Nebenhandlung: der Biotech-Plan der Regierung
Während die Alguera-Genossenschaft ihre ersten kleinen Erfolge erzielte, schmiedeten Regierungs-Technokraten neue Pläne für Chiles Algen-Bestände. Im Zusammenhang mit dem Ende 2012 von der Regierung Sebastián Piñera (2006-2010) erlassenen und seitdem landesweit von artisanalen Fischern bekämpften Fischereigesetz „Ley Longueira”, begannen in Chile Überlegungen darüber, wie das Land Anschluss an den weltweiten Boom von Biotreibstoffen finden könne. Die erste Entscheidung fiel auf die Wiederaufforstung und Förderung der Algenzucht, die 2012 einen Exportzuwachs von 12,2% erfahren hatte. Im Staatssekretariat für Fischerei-Angelegenheiten (Subsecretaría de Pesca) konstituierte sich eine Arbeitsgruppe, die die Algenzucht und industrielle Weiterverarbeitung zum Ziel erklärte und zwei Foren organisierte, in denen Wissenschaftler und Unternehmer ein Strategie-Konzept entwickelten. Ergebnis dieser Foren war die neue Erkenntnis des Geschäftspotentials der Algenzucht für die Weiterverarbeitung in der pharmazeutischen, kosmetischen und Nahrungsmittel-Industrie. Doch das highlight im Strategiepapier war der Aufbau einer Algentreibstoff-Industrie.
Bucalemu: Überfischung und Kollaps
Am 27. Februar 2010 wurde Zentral-Südchile von einer verheerenden Kombination von Erd- und Seebeben der Stärke 8,8 auf der Richterskala heimgesucht. Der wenige Stunden später einsetzende Tsunami fegte mit über 30 m hohen Wellen über die Küste der Region Libertador Bernardo O’Higgins und spülte Straßen, Häuser und Fischerboote vor sich her, als sei es Kindespielzeug. Als der Ozean wieder abebbte, glich Bucalemu einem Schlachtfeld. Nichts als Trümmer.
Am härtesten betroffen wurden die Artisanalen und Algenfischer, etwa 1.000 Männer und Frauen, die zur Sommersaison nahezu 40% der Algenverladungen für den Binnenmarkt erwirtschaften.
Seither warten sie zT immer noch vergeblich auf die von der Regierung Piñera versprochenen Reparationszahlungen für ihren Tsunami-Schaden. Bis heute sind ihre legitimen Schadenersatzforderungen auch von der Nachfolge-Regierung kaum in angemessener Weise abgegolten. Generell fühlen sich die Algueros von Politikern und Regierung egal welcher Couleur verlassen. Langsam dämmert Ihnen, daß sie „das letzte Glied in der Produktionskette” sind. Auch das Schwächste und am ehesten Austauschbare.
Luis Cordero Godoy, Abkömmling einer Familie, die am Strandort La Lancha von Bucalemu seit 50 Jahren Algen fischt, ist pessimistisch: Zwar könne man in seinem Gewerbe ein paar Monate im Jahr gutes Geld verdienen, doch sei die Zunft nicht als Beruf anerkannt und entbehre sogar den minimalsten sozialen Schutz, wie Krankheits-und Rentenversicherung.
Verschärfend wirkte das Ende 2012 erlassene Fischereigesetz, das von der Grenze nach Peru bis ins Feuerland die chilenische See privatisierte, also die Artisanalen auf einen 1,0 Km breiten Küstenstreifen zusammen pferchte und statt dessen die gesamte chilenische See auf sieben Großreedereien aufteilte. Die Annahme war, die artisanalen Fischer seien eine aussterbende Zunft.
Das Fischereigesetz hat der Überfischung Tür und Tor geöffnet, doch falls die Algueros unter dem Exportdruck ebenso intensiven Raubau an den Algenbeständen betreiben, dann ist in maximal 20 Jahren damit ein Ende – für die Algen und die Algueros.
3.000 Km Küste für den Algensprit
Die Idee, Algen zu Treibstoff zu verarbeiten, stammt vom Konsortium Bal Biofuels S.A. und der Universität de los Lagos. Biofuels ist ein US-amerikanischer Konzern, der – kaum war das neoliberale Fischereigesetz in Kraft - von Chiles Regierung eine Bewirtschaftungskonzession beachtlichen Ausmasses in der patagonischen See erhielt.
Das Konsortium wehrt sich gegen den Vorwurf, nur Sprit im Ozean zu produzieren. Es verweist auf die Nutzung seiner Algen als Rohstoff mit vielfältiger Anwendung. Doch, wenn das so ist, dann ist Biuofuels bereits der erste Schritt hin zur Privatisierung der traditionellen Algenwirtschaft gelungen. Es ist ein Wasserplantagensystem geplant, in dem die einst selbständigen Algueros nur noch als billige Arbeitskräfte eine Zukunft haben.
Das Algensprit-Programm steckt noch landesweit in den Kinderschuhen, ist aber bereits ein lukrativer Deal, denn die beteiligten Firmen geben keinen Pfennig aus. Für die Pilotprojekt-Phase stellte die chilenische Regierung 31,6 Mio. US-Dollar zur Verfügung. Hauptziel dieser Etappe ist die Technologie-Entwicklung für die Verarbeitung von Algen zu Treibstoff.
Begünstigt wurden neben BAL Biofuels, die Konsortien der privaten Unternehmen Desert BioEnergy und AlgaFuels. Entsprechend den Richtlinien der Nationalen Energie-Kommission und des Programms zu Unternehmensförderung CORFO steht den Firmen auch immer eine private chilenische Universität zur Verfügung.
Forscher und Unternehmer versprechen sich Wunder: Makroalgen verfügen über ein nachhaltiges und billiges Leistungspotenzial von 2.300 Litern Ethanol je Hektar und Jahr, also die doppelte Ethanol-Leistung des brasilianischen Zuckerrohrs (1.200 Liter).
Dreitausend Kilometer Küste mit hoher Sonneneinstrahlung, ideal für die Photosynthese. Mit diesen Dimensionen startete Chiles Regierung die Werbung für das Algensprit-Programm.
So eilte Biofuels erst einmal nach Patagonien, und Desert BioEnergy in entgegen gesetzter Richtung nach Tocopilla, an der Küste der Atacama-Wüste. An der Küste der patagonischen Insel Chiloé erhielt Biofuels zunächst 40 Hektar (400.000 Quadratmeter) Seeareal für die Algenexploration. Ist die noch nicht ausgereifte Verarbeitungs- (Press- und Destillierungs-) Technologie erst einmal erprobt, dann kann die Ausweitung der Algenfarmen mit Volldampf losgehen.
Die Umschulung
An einem schönen Wochenende geschah etwas ganz Unverhofftes in den Räumen der öffentlichen Schule Liceo Insular de Achao, auf Chiloé: Bürgermeister, Behörden und die Geschäftsführung von Biofuels riefen Fischer und Algensammler dazu auf, sich für ein „Programm für Umwelterziehung und Qualifizierung“ anzumelden. Denn, so der Firmensprecher, „Umwelterziehung und Qualifizierung schliesst alle Akteure ein, die in der Zukunft in dieser neuen Industrie ein Zuhause haben könnten“.
„Doch leider wird die herkömmliche Algen-Verarbeitungsindustrie allein von der Extraktion aus natürlichem Wassergelände versorgt, mit sehr niedriger Ausbeute jener Algen, die für den industriellen Anbau relevant sind, wie zum Bespiel Gracilaria chilensis”. Die herbei gerufenen Algueros schauten sich überrascht an. Die Umschulung hatte bereits begonnen.
Chiles Meereswirtschaft mit erneuerbaren Resourcen noch einmal im Überblick
Mit seinen ca 6,500 Kilometern Küste - einschließlich den Inselgruppen Juan Fernández und Rapa Nui - der kalten, biologische Wachstumsprozesse fördernden Humboldt-Strömung und seiner vorteilhaften Biodiversität, ist Chile stets ein für die Gewinnung von Meeresnahrungsmitteln prädestiniertes Land. Es rangiert unter den zehn größten Fischerei-Ökonomien der Welt.
Laut FAO (2014), beschäftigte die Fischerei des Andenlandes 90.000 Menschen im extraktiven Sektor. Die Fänge beliefen sich im Jahr 2012 auf 3,6 Mio. Tonnen. Die entsprechenden Exporterlöse lagen bei 4,337 Mrd. US-Dollar.
Wegen Überfischung der Nahrungsfischarten (Stöcker, Anchoveta, Sardine, Südpazifischer Seehecht und Rochen) erlebt die chilenische Fischerei seit 2013 jedoch ihre bedrohlichste Krise, mit einschneidenden Umsatzeinbrüchen. Mit 3.200 Betriebskonzessionen hat die Aquakultur einen beachtlichen Anteil an der Poduktionskette der chilenischen Fischerei. Natürlich darf man Fischerei- und Aquakulturproduktion nicht addieren. Besonders in Chile ist ein Hauptbestandteil der Aquakultur die Lachsproduktion. Lachse sind Raubfische. Ihr Futter enthält einen großen Anteil Fischmehl, das aus der Fischerei stammt, meist Fische, die auch zum direkten menschlichen Verzehr geeignet sind. Die Algengewinnung schlägt als letztes Glied mit ca. 700.000 Tonnen im Jahr zu Buche. In Chile werden 18 verschiedene Algenarten gezüchtet, darunter u.a. chascón, luga negra, luga roja, chicorea de mar und luche.